... das gehört zusammen wie gutes Training und ein schneller Wettkampf. Es muss aber nicht immer mit Laufen zu tun haben. Hier bekommt ihr jeweils eine Story angeboten, die sich ums Laufen dreht, oder auch nicht.
Willkommen im Carbon/Gel/Insta-Zeitalter.
Erdgeschichtliche Zeitalter gibt es viele. Die meisten haben ohne den Menschen stattgefunden. Die Erde erinnert sich sicher wehmütig an diese wundervollen Jahre. Egal ob im Präkambrium oder dem Mesozoikum, ohne Menschen war vieles einfach besser. Jetzt, im Anthroprozän ist es mit dem Gleichgewicht und der Ruhe auf der Erde vorbei. Neue Zeiten halt.
So wie in der Erdgeschichte, gibt es auch in allen Bereichen des menschlichen Lebens neue Abschnitte. Da geht es vom Walkman über den MP3-Player zur Handy-App. Oder vom Maxi- zum Midi- zum Mini-Rock. Tausend weitere Beispiele sind möglich.
Im Sport, gerade in meinem heiß geliebten Laufsport, gibt es das auch. Im Marathon-Bereich gab es da früher das Pur-Zeitalter. Da wurde einfach drauflosgelaufen. Ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, was da eigentlich passiert. An den Verpflegungsstellen wurde Kaffee statt Wasser oder Iso-Getränken gereicht und Weltklasseläufer wie Emil Zatopek trainierten in Militärstiefeln.
Irgendwann folgte dann das Training-Zeitalter. Da wurde hart und akribisch nach Plan gelaufen. Es entwickelten sich Trainingsmethoden wie das Fahrtspiel, das Intervalltraining, GA1 und GA2 Läufe. Alles war darauf ausgelegt, den eigenen Körper zu optimieren. Das Drumherum fand dort wenig Beachtung. Man wusste, dass man für den Marathonlauf 99 Prozent Wasser und 1 Prozent etwas anderes benötigte. Ein Barfußläufer wurde Olympiasieger im Marathon und lief dabei eine Weltbestzeit. Das sagt schon alles.
Mittlerweile befinden wir uns im Carbon/Gel/Insta-Zeitalter. Da ist der eigene Körper nicht mehr ganz so wichtig. Viel wichtiger ist das ganze Drumherum. Es fängt bei den Schuhen an, geht über die Socken zur Lauftight, dem Shirt und der passenden Kopfbedeckung. Materialien, Farben, Design, alles megawichtig. Dazu bestimmte Getränke, Gels, Wunderpflanzen, Heilsamen und anderer Krimskrams. Ebenfalls wichtig sind Leistungsdiagnostik, komplette Datenüberwachung vom Schlaf bis zum Toilettengang. Ich erinnere sie jetzt gern daran: Ich spreche hier vom Amateursport. Nicht zu vergessen natürlich die digitale Präsenz. Jeder Lauf, jedes Training, jedes Körnermüsli, jedes Evian-Wasser und jedes vegane Abendmahl müssen unbedingt der Welt mitgeteilt werden.
Letztendlich geht es nicht mehr ohne Carbon-Schuhe, diverse Energiegels, wissenschaftliche Analysen und vorsorgende Arztbesuche. Die Sportartikelindustrie freut sich, da alles eine Menge Geld kostet, dass der Sportler gern ausgibt.
Wie war das eigentlich früher? Was haben wir da genau trainiert? Ging es nicht darum den Körper darauf zu trimmen in der Fettverbrennung zu laufen? Haben wir uns da nicht sehr viel mehr Trainingsumfang an Kilometern und langen Läufen gegönnt als heute? Haben wir da nicht viel mehr an die fantastische Funktionsweise unseres eigenen Körpers geglaubt als an Unterstützungen durch Gels, Pillen, bestimmte Getränke, Schuhe oder technische Hilfsmittel? War da Laufen nicht einfach nur die Fortsetzung der natürlichsten Bewegungsart des Menschen mit der Zugabe von Geschwindigkeit? Ich bin mir ziemlich sicher: So war das.
Die Zeiten ändern sich. Wer nicht mitgeht, wird abgehängt. Okay, ich lasse mich beim Laufen nicht gern abhängen. Aber in dieser neuen Welt des Laufsports werde ich nicht mitlaufen. Da steige ich freiwillig aus dem Rennen aus. Mein Laufen war nie ein Event, dass mit Hilfe von jeder Menge Schnickschnack sofort öffentlich gemacht werden muss. Mein Laufen war immer eine Reise. Von einem Start zu einem Ziel. Egal ob von der eigenen Haustür über die Spielplätze in den Wäldern meiner Kindheit zum höchsten Berg unseres kleinen Mittelgebirges oder von der Startlinie eines Marathons zum Zielbanner. Jeder Lauf ist eine Reise. Für mich ist das noch immer so. Diese Reise gibt es allerdings nirgendwo zu buchen. Und sie kostet auch kein Geld. Die Natur, die ich durchlaufe, die Luft, die ich atme und das unglaublich gute Gefühl, dass ich habe, wenn meine Schritte über den Boden gleiten, sind (noch) kostenfrei. Sollte sich der Laufsport in der Schnelligkeit der letzten Jahre weiter verändern, könnte sich auch das bald ändern. Schon jetzt sind wir auf der Spur „Was nichts kostet, bringt nichts. Was viel kostet, bringt viel.“ Eine Trugspur, auf der sich hochbezahlte Profiläufer als Leim für Anfänger präsentieren. Mein Laufsport ist ein reiner Amateursport. Profis, egal in welcher Sportart, haben mit dem ureigentlichen Sinn von Gesunderhaltung durch Sport nichts zu tun. Insofern macht es für einen Amateur auch nicht viel Sinn, sich wie ein Profi zu verhalten.
Wenn wir dann wieder mal in großer Runde zusammensitzen und ich mir den „neuesten Scheiß“ von Instagram, Tiktok, Facebook und Co. anhöre, muss ich mir gewaltig auf die Zunge beißen, um meine eigene Meinung nicht laut herauszuschreien. Wenn ich Videos von sogenannten Sport-Influencern in Sachen Marathon sehe, komme ich aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. Man findet nur selten so viel versammelte Inkompetenz. Aber dafür gibt es nebenbei wenigstens einen ganz Schwung Werbung.
In letzter Zeit mache ich es mir dann immer ganz einfach. Ich stelle einfach nur folgende Frage: „Wenn das alles so wichtig ist. Also diese Carbon-Schuhe und das Gel und die Lauf-Uhr und die Ernährung und die Iso-Getränke und der ganze andere Kram, wieso sind die Läuferinnen und Läufer, die ich vor 20 Jahren trainiert habe, obwohl die nichts davon besaßen und während des Laufens lediglich Wasser tranken und einen Müsli Riegel gegessen haben, viel schneller gelaufen als ihr?“
Das verschafft mir dann oft ein bisschen Ruhe. Ich kenne die Antwort auf diese Frage übrigens. Aber ich verrate sie nicht. Sie ist einfach. Ich brauche mir nur einen alten Trainingsplan anschauen, dann weiß ich Bescheid. Damals wurde schlichtweg mehr trainiert als heute. Mehr Kilometer, mehr Tempo, mehr Intervalle. Vor allem aber wurde das Laufen völlig anders von jedem Einzelnen fokussiert. Es war dem Läufer deutlich wichtiger. Zu guter Letzt konzentrierten sich die damaligen Amateurläufer ausschließlich auf die Verbesserung der Laufzeit durch Anpassung des eigenen Körpers. Sie wollten mehr Leistung aus sich selbst holen und dachten gar nicht daran, den Körper mit Schuhen oder anderen Hilfsmitteln zu „pimpen.“ Es sind die Füße, die laufen, nicht der Schuh. Es ist der eigene Körper, normal und gesund ernährt, der die Leistung erbringt, nicht irgendeine Substitution, die ich ihm zuführe. Wir sollten wieder mehr an uns selbst glauben. Das täte uns gut. Aber die Zeiten ändern sich und Veränderungen lassen sich nicht aufhalten.
Allerdings wird in unserer schönen neuen Medien-Konsum-Gesellschaft das Rad alle Jahre wieder neu erfunden. Wer weiß, vielleicht kommt dann irgendein Influencer (wieso denke ich eigentlich immer an Grippe, wenn ich das Wort höre) auf den Trichter, dass es damals Trainer wie Artur Lydiard, Ernst van Aaken oder Jeff Galloway gab, die aus Menschen hervorragende Läufer machten, ohne dafür Tausende von Hilfsmitteln und „seelischen Krücken“ zu benutzen. Wer weiß… Ich werde dann allerdings schon lange nicht mehr als Trainer im Laufsport tätig sein.
Thomas Knackstedt