... das gehört zusammen wie gutes Training und ein schneller Wettkampf. Es muss aber nicht immer mit Laufen zu tun haben. Hier bekommt ihr jeweils eine Story angeboten, die sich ums Laufen dreht, oder auch nicht.
Wie spät ist es?
Ich weiß genau, dass man mit der Zeit gehen muss. Sie wartet auf Niemanden und ist in dieser Beziehung absolut gnadenlos. Aber wenn man selbst zu den älteren Semestern gehört, denkt man irgendwann: Ach, Scheiß drauf. Manchmal bin ich genau an diesem Punkt angekommen. Kleines Beispiel gefällig?
Ich bin seit 27 Jahren Trainer einer Laufgruppe. Da geht es in erster Linie um Marathon und Ultraläufe. In den 27 Jahren, die ich in dieser Tätigkeit unterwegs bin, hat sich nicht nur der Stoff von Baumwolle in Gore-Tex verwandelt. Vor allen Dingen haben die Technik und der Glaube in den Laufsport Einzug gehalten.
Wusste man damals noch, dass man für einen Marathon unterwegs Wasser braucht, so sind sich heute 90 Prozent der Läufer einig, dass man ohne Gels, Zusatzstoffe, Mineralien, Zink, Selen, freien Radikalen und anderem Trallala ganz sicher nicht über die 42,195 Kilometer kommt. Alte Marathonläufer, wie ich einer bin, lachen sich da schlapp, aber: Das interessiert in Zeiten von Facebook, Instagram, Tiktok und Myspace auch keinen mehr.
Zum anderen ist es die Technik. Früher war eine Stoppuhr gut; aber nicht unbedingt Pflicht. Heute müssen die besten GPS-Uhren, Tracker und Datenwesten her, damit man auch wirklich alle Daten abgreifen kann, die letztendlich unwichtig sind. Aber: Cool ist das schon. Doch spätestens, wenn die Auswertung der Laufdaten länger dauert als der Trainingslauf sollte man sich Gedanken machen. Ebenfalls Nachdenkens wert ist es, wenn ich nach dem Start beim Berlin Marathon zum Veranstalter gehe und behaupte, die Strecke würde nicht stimmen, da meine Uhr angezeigt hat, dass ich 43 Kilometer gelaufen bin. Oder noch besser: Im Ziel wartet jemand auf den Läufer, um ihm eine Medaille umzuhängen, doch der Läufer läuft, mit einer Handbewegung auf seine Uhr deutend, weiter und ruft: „Ich muss noch 400 Meter laufen. Der Marathon ist noch nicht voll.“ Denken sie bitte nicht, dass ich mir das ausgedacht habe. Das sind Erlebnisse direkt aus meinem eigenen Erfahrungsschatz.
Jetzt kommt das Beispiel: Trainingsabend im Winter. Es ist dunkel. Bei uns gilt seit Jahrzehnten die „5 Minuten-Regel.“ Will heißen: Nach der vereinbarten Treffpunkt-Zeit wird maximal 5 Minuten gewartet, dann geht es los. Wer zu spät kommt, muss sehen, wo er bleibt. Unser Treffpunkt heute war auf 18 Uhr gelegt, also wäre es jetzt gut zu wissen, wie spät es ist. Ich habe selbst keine Uhr dabei und frage in die Gruppe hinein: „Wie spät haben wir es denn?“ 10 Augenpaare starren auf ihre Laufuhren und anschließend auf mich. Keiner sagt etwas. Ich schaue in die Gruppe und weiß genau, was los ist. Die Augenpaare schauen mich noch immer an. Ich komme mir vor wie ein Hundesitter, der von 10 kleinen Fellstrolchen umgeben ist, die mit ihren treuen „Dackelaugen“ in die Welt schauen.
Ich bin mir ziemlich sicher, was da gerade passiert. Natascha könnte mir vermutlich sagen, wie hoch ihr Puls gerade ist. Annike könnte mir die genau Höhe über Normal Null Meeresniveau nennen. Jan würde den genauen Luftdruck und die Luftfeuchtigkeit nachliefern können. Roman sieht momentan die Anzeige seiner eigenen Sauerstoffsättigung. Dennis könnte jetzt die geplante Belastungssteuerung für das heutige Training erläutern. Arne lieferte dazu die punktgenauen UTMS-Daten unseres jetzigen Standorts. Messer wäre vermutlich in der Lage, mir mitzuteilen, ob es in der nächsten halben Stunde regnen wird. Jürgen könnte ich fragen, wie sein aktueller Kalorienverbrauch ist. Mit ein bisschen Glück fände ich auch noch jemanden, der mich darüber informieren könnte, ob sein Fettstoffwechsel schon aktiviert wurde und falls ja, zu wieviel Prozent der gerade aktiv ist.
Das hier ist kein Computer. Sondern eine ganz normale Laufuhr. Kennen nur noch die wenigsten...
Aber die Uhrzeit? Fehlanzeige! Vermutlich eine zu simple Anzeige für eine Lauf-Uhr. Doch dann fällt mein Blick auf Karsten. Der ist noch genauso Old-School wie ich. Er blickt noch einmal auf seine Uhr, schaut mich an und sagt: „Okay, ich habe die Uhrzeit.“ Mir fällt ein Stein vom Herzen. Da ist er also: Der einzige Mensch in meiner Laufgruppe, der eine Uhr trägt, die die Uhrzeit anzeigt. Ich schaue ihn fragend an und sage: „Und?“ Karsten schüttelt leicht den Kopf: „Ich kann es nicht ablesen. Ich habe meine Brille nicht auf.“
So sieht es also aus mit der schönen, neuen Läuferwelt. Doch egal. Dem Glücklichen schlägt ohnehin keine Stunde. Laufen wir also einfach los…
Thomas Knackstedt