... das gehört zusammen wie gutes Training und ein schneller Wettkampf. Es muss aber nicht immer mit Laufen zu tun haben. Hier bekommt ihr jeweils eine Story angeboten, die sich ums Laufen dreht, oder auch nicht.
21 Minuten.
Ich schaue auf die Uhr. Für mein kleines Experiment will ich genau wissen, wie lange es dauern wird. Ich rechne mit Sekunden, vielleicht Minuten. Aber vermutlich wird es nicht allzu lange anhalten.
Meine Füße laufen über nassen Sand. Die Nordsee ist gerade dabei, sich zurückzuziehen. Ich bin an den Strand gelaufen und musste mich dabei regelrecht durch einen Windkanal kämpfen. Jetzt weht mich der Wind Richtung Norden und vor mir erstreckt sich eine Landschaft, die man nicht alle Tage sieht. Sie ist etwas ganz Besonderes. Nicht etwa, weil links eine tosende See ihre Armeen von Wellen auf den Strand schickt. Auch der weiße Sand mit den Millionen von glatt geschliffenen Steinen vor mir, ist keine Seltenheit. Genauso wie die Dünen rechts, auf denen sich der Strandhafer im Wind beugt. All das ist normal.
Was mich so fasziniert ist, dass ich, egal wohin ich meinen Blick auch richte, keinerlei Spuren menschlicher Existenz sehe. Auf dem Meer ist kein Schiff, kein Windrad, keine Boje. Vor mir auf dem Sand ist bis zum Horizont kein menschliches Wesen zu sehen. Auch keine Spuren im Sand, Müll oder Rückstände von Menschen, die dort herumlägen. Rechts auf den Dünen sehe ich keinen Leuchtturm, keinen Funkmasten, kein Haus, keine Stromleitung. Am Himmel ist nicht ein einziger Kondensstreifen zu erkennen. Kein Flugzeug. Nichts.
Wann hatte ich das letzte Mal so einen Moment? Rundumblick ohne Hinweise auf Menschen. Ich kann mich nicht erinnern. Im Sand rutschen meine Füße ein wenig hin und her. Ich verlangsame meinen Laufschritt. Ein paar Kilometer muss ich noch laufen. Noch immer sind um mich herum nur das Meer, der Strand und die Dünen. Darüber ein Himmel mit weiß getupften Wolken.
Ich überlege, dass die Welt, so wie ich sie jetzt vor mir sehe, vor Hunderttausenden oder Millionen Jahren ausgesehen hat. Ich bin praktisch in einer zeitlosen Blase unterwegs. Würde jetzt links von mir, auf den Wellen des Ozeans, ein Wikingerschiff mit Leif Eriksson und seiner wilden, bärtigen Besatzung auftauchen, würde ich das in einem Umfeld sehen, das zeitlich passt.
Kämen Wollnashörner und Mammuts über die Hügel der Dünen marschiert, um sich im Sand zu wälzen und ein Bad im Meer zu nehmen, würde ich das genau so sehen, wie das damals aussah. Die Tiere würden perfekt in das Bild passen, das sich mir bietet.
Ebenso wären Saurier, egal ob auf dem Land oder in der Luft, hier keine Sensation. Als diese Tiere lebten, sah das Land am Meer genau so aus, wie ich es jetzt sehe. Mir wird klar, dass alle Veränderungen, die heute so einen Anblick so außergewöhnlich machen würden, von uns Menschen verursacht wurden. Wir haben die Welt in ein paar Tausend Jahren komplett umgestaltet, verändert, verschandelt und teilweise kaputt gemacht. Orte zu finden, an denen keinerlei menschliche Zivilisationsspuren zu finden sind ist schwierig bis unmöglich.
Ich laufe mental wie in einem Tunnel. Meine Beine bewegen sich von selbst, mein Atem ist ruhig und gleichmäßig. Meine Blicke ruhen auf dem Meer, dem Strand und den Dünen. Noch immer denke ich, dass hier, jetzt, in diesem Moment, alles passieren könnte. Ich bin unterwegs in einer Zeitblase.
Wer weiß, vielleicht sehe ich gleich einen Feuerschweif am Himmel und kurze Zeit später schlägt ein Meteorit auf der Erde ein und zerstört fast alles Leben. Vielleicht erschienen ein paar Schiffe am Horizont und ich sehe, wie Störtebeker mit seinen Likedeelern auf der „Toller Hund“ durch die Brandung pflügt und ein Handelsschiff jagt. Oder ein Flugsaurier kommt über den Dünenkamm geflogen und nimmt mich mit seinen scharfen Augen ins Visier.
Noch während mir all diese Gedanken durch den Kopf schießen, sehe ich, ganz weit am Horizont, im Dunst der Nebelschleier fast nicht sichtbar, eine menschliche Gestalt. Ich schaue auf die Uhr. Es sind genau 21 Minuten vergangen, in denen ich nichts sah, was mit Menschen zu tun hat. Was für eine Zeitspanne!
Jetzt ist die Zeitblase zerplatzt und hat mich mit voller Macht ins Hier und Jetzt katapultiert. Dem Rhythmus meiner Schritte tut das keinen Abbruch. Lediglich meine Gedanken verabschieden sich aus den verträumten Szenarien von Millionen von Jahren. Ich bin wieder da. In diesem Jahr. Bei meinem Leben. Zusammen mit über 8 Milliarden anderen Menschen auf der Erde. Okay, damit komme ich gut klar, auch wenn diese Menschen, ich eingeschlossen, verantwortlich für alle Probleme auf diesem Planeten sind.
So sieht es also aus. Der Realität kann man auf Dauer nicht entkommen. Ich habe es für 21 Minuten geschafft. Es war eine kurze Reise, aber eine, die ich niemals vergessen werde.
Thomas Knackstedt